Faszi(e)nierend - Was ist so spannend am Gewebe
erschienen in der Zeitschrift Physiotherapie in Theorie und Praxis, dem offiziellen Organ des Verbandes Physikalische Therapie Vereinigung für die Physiotherapeutischen Berufe (VPT) e.V., Heft Nr.8 August 2013 & Nr.9 September 2013
Die Betrachtung und Therapie von Fasziengewebe gewinnt in der Medizin immer mehr an Bedeutung. Dabei gehen viele Physiotherapeuten in der täglichen Arbeit allzu oft immer noch davon aus, dass vorranging der mechanische Aspekt, Fasziengewebe zu verlängern, in der Therapie zum gewünschten Erfolg führt. Doch damit lässt man weitere, eventuell viel bedeutendere Eigenschaften des Fasziengewebes als Therapieansätze außer Acht und ungenutzt verpuffen.
Um die Möglichkeiten, die in der Therapie von Fasziengewebe liegen verstehen zu können, ist es wichtig deren physiologischen Eigenschaften zu kennen. Faszien, bislang oft fast abwertend als Binde- oder reines Füllgewebe im Körper bezeichnet, finden wir als kollagene Faserstrukturen in allen Bereichen des Organismus, vor allem als Gelenk- und Organkapseln, Sehnenplatten (Aponeurosen), Muskelsepten, Bänder, Sehnen oder Retinacula. Neben ihrer Funktion als Puffer sind sie Fett- und Wasserspeicher, aber durch ihre reichhaltige Versorgung mit Rezeptoren auch das größte Sinnesorgan des Körpers. Neben den kollagenen Fasern, der Grundsubstanz und den Rezeptoren finden wir des Weiteren Myofibroblasten in den Faszien, die vor allem aus der Wundheilung bekannt sind, aber auch in den Faszien eine gewichtige Rolle spielen. Die glattmuskel-ähnlichen Myofibroblasten sind über ihre Dichte und Spannung mitverantwortlich für die Steife der Faszie, was auch in der Pathologie von großer Bedeutung ist. So findet man z.B. bei einer Schultersteife (frozen shoulder) eine besonders hohe Myofibroblastendichte.[1] Die Stimulation der Myofibroblasten ist dabei abhängig vom Wachstumsfaktor TGF-β1. Da dieser Wachstumsfaktor in engem Einfluss zum Sympathikus steht wird ein hoher Zusammenhang der Faszienspannung mit dem vegetativen Nervensystem vermutet.[2] Ebenso stimuliert erhöhter Blutzucker die Freisetzung von TGF-β1. Auch Serotonin hat einen Einfluss auf die Myofibroblasten und senkt die Reizschwelle der nozizeptiv tätigen Typ-IV-Rezeptoren. Diese Rezeptoren wiederum finden sich reichhaltig in den Faszien in Form von Pacini- und Ruffini-Rezeptoren, welche bei Reizung neben der rein sensorischen Funktion auch Effekte im vegetativen Nervensystem erzeugen, welche als trophotropisches „Tuning“ bezeichnet werden und Muskeltonussenkung, Synchronisierung der kortikalen Aktivität und Reduzierung der emotionalen Aktivität hervorrufen, also Entspannung.[3] Des Weiteren reagieren Cilien, die von der Zellmembran in die umgebende Grundsubstanz hinein reichen und die Bewegung der Grundsubstanz von welcher sie umspült werden wahrnehmen, auf einen Druck von 6 dyn/cm² (entspricht 0,00006 N) mit einer Freisetzung des Botenstoffes MMP-1 (Fibroblasten-Kollagenase), welcher einen Kollagenabbau in der extrazellulären Matrix auslöst.[4] Dieser Druck auf das Gewebe kann bereits durch die normale Muskelaktivität und Gewebespannung bei endgradigen, aktiven Bewegungen erlangt werden.
Spannung und Funktion der Faszien sind somit abhängig von:
- Berührung (über Mechanorezeptoren)
- Bewegung (über Propriozeptoren & Cilien)
- Emotionen (über Somatomotorkortex)
- Immunsystem (über Sympathikus)
- Ernährung (über Blutzucker u.a.)
Da nahezu alle Faszien in direktem oder indirektem Kontakt zueinander stehen vermutet man auch, dass sie als ein körperweites nicht-neurales Kommunikationsnetzwerk fungieren könnten [5], was auch gleichzeitig als einer der Erklärungsansätze für die Wirkung der Akupunktur angeführt wird. Der Zusammenhang mit dem Myofaszialen System, seinen Durchtritten und Faszienabspaltungen in die Tiefe, scheint bei einer Übereinstimmung von über 82% zu den klassischen Akupunkturpunkten der TCM, wie sie Heine 1995 festgestellt und Langevin 2002 vertieft hat, schon fast sicher.[6] Faszien werden von Dr. Robert Schleip als unser wichtigstes Sinnesorgan für den so genannten sechsten Sinn, also für den Körpersinn, bezeichnet. Ob und wie gut jemand bewusst oder unterbewusst seinen Körper wahrnimmt, hängt in erster Linie von der Rückmeldung unzähliger Rezeptoren in den Faszien ab. Darin liegt natürlich ein sehr großes therapeutisches Potenzial, aber ebenso das Risiko, dass es durch eine Fehlregulation zu Störungen im Zusammenspiel zwischen Nerven- und Fasziensystem kommen kann. [7] Beschwerden, die sich über das Fasziensystem (ursächlich oder symptomatisch?) bemerkbar machen, basieren also auf Störungen, die aus den Bereichen Berührung, Bewegung, Emotionen, Immunsystem und Ernährung herrühren und vielfältigste Reaktionen im Körper hervorrufen können. Als logische Konsequenz stellt sich nun wohl weniger die Frage, welche Beschwerden im Zusammenhang mit dem Fasziensystem stehen, sondern eher, welche nicht?
Aufgrund dieser Komplexität der Zusammenhänge wird ebenfalls klar, dass eine erfolgreiche Therapie nicht alleine auf der mechanischen Ebene und Beeinflussung des Fasziengewebes stattfinden kann. Dies verlangt von den Therapeutinnen und Therapeuten einerseits ein Umdenken in der Dosierung ihrer Behandlungsintensität, da es eher um die Beeinflussung von Rezeptoren und Cilientätigkeit als um mechanische Dehnung der Faserstrukturen geht, andererseits aber auch die Bereitschaft über den physiotherapeutischen Tellerrand hinauszublicken und die Themen Mentaltraining, Ernährung und Immunsystem in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen. In allen Seminaren des physiQus®-Konzeptes - Myofasziale Therapie, Funktionelle Narbentherapie und Cranio-mandibuläre Dysfunktion - spielen das Fasziensystem und diese Betrachtungen eine zentrale Rolle. In vielen Bereichen steht die Faszienforschung noch am Anfang und wird sich in den nächsten Jahren noch deutlich weiterentwickeln, weitere Erkenntnisse bringen, die eine oder andere Überraschung parat halten und unsere Arbeit nachhaltig beeinflussen. Das Potential dafür ist vorhanden. Bleiben Sie neugierig und faszi(e)niert.
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